ZAUBERHAFTES PLACEBO

Der arme Charmides hat Kopfschmerzen. Sokrates hat ein Mittel dagegen und Charmides fordert es. Sokrates antwortet: „Es ist eigentlich ein Blatt, aber es gehört noch ein Spruch zu dem Mittel, wenn man den zugleich spricht, indem man es gebraucht, macht das Mittel ganz und gar gesund, ohne den Spruch aber ist das Blatt zu nichts nutz.“ Ein Blatt und ein Spruch versprechen Charmides also Heilung von seinen Kopfschmerzen.

Ein Blatt, ein Kraut, eine Wurzel – das Richtige auszuwählen, ist medizinisches Pflanzenwissen. Doch dieses allein reicht nicht aus: Bei Sokrates, bei Schamanen, bei Naturvölkern und auch in unserer Volksmedizin werden Sprüche, Beschwörungen oder andere Rituale eingesetzt. Das Tragen ritueller Kleidung oder der Umgang mit besonderen Kultgegenständen gehören dazu. Sprüche und Rituale sollen auf den Kranken wirken und ihm Heilung ermöglichen. „Es heilt Wort und Wurz“, sagt ein altes Sprichwort.

Springen wir nun in eine moderne westliche Arztpraxis: Der Arzt hätte Charmides vermutlich eine Tablette mit einem pharmakologischen Wirkstoff verschrieben, um sein Kopfweh zu vertreiben. Eher unwahrscheinlich, dass er ihm ein Placebo, ein „Scheinmedikament“ ohne wirklichen Wirkstoff, gegeben hätte. Kopfweh lindern mit – „Nichts“? Würde Charmides seinem Arzt auf die Schliche kommen, würde ihr Vertrauensverhältnis sicher auf die Probe gestellt, und der Arzt hätte möglicherweise sogar juristische Konsequenzen zu befürchten.

Placebo – der Begriff ist bekannt aus medizinischen Studien, bei denen die Wirksamkeit eines Wirkstoffes gegenüber einem “Scheinmedikament“, das zum Beispiel aus Zucker oder Stärke besteht, getestet wird. Während ein Teil der Versuchsgruppe den Wirkstoff erhält, erhält ein anderer Teil der Gruppe das Placebo. Zeigt auch das Scheinmedikament eine Wirksamkeit, spricht man von einem Placeboeffekt. – Zauberei? Oder wie lässt sich die Wirksamkeit des Placebos sonst erklären?

Die Bundesärztekammer, die Standesvertretung der Ärzte in Deutschland, hat vor wenigen Jahren empfohlen, den Placeboeffekt stärker in der Therapie zu nutzen. So könnten erwünschte Medikamentenwirkungen maximiert, unerwünschte dagegen minimiert und im Gesundheitswesen auch noch gespart werden.

Einer, der beim Placeboeffekt genau hinschaut, ist Jürgen Windeler: der Professor leitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Und er möchte statt von Placebo lieber von „kontextabhängigen Faktoren“ sprechen, die zur Wirksamkeit beitragen, zum Beispiel:

  • der Einfluss des Behandlers:
    Ist er männlich oder weiblich, trägt er einen weißen Kittel, hat er akademische Titel?
  • der Einfluss der Prozedur:
    Bekommt der Patient eine unscheinbare kleine weiße Tablette von der Arzthelferin oder eine Spritze mit roter Flüssigkeit von der Ärztin?
  • der Einfluss der Umgebung:
    Findet die Behandlung im Krankenhaus statt oder zuhause? Herrscht in den Räumen eine angenehme Atmosphäre?
  • der Einfluss des Patienten:
    Erwartet er eine Besserung? Hat er Angst vor Spritzen oder vor dem Krankenhaus?

Das alles zieht Veränderungen nach sich, so Windeler, unabhängig davon, ob ein echtes oder ein Scheinmedikament gegeben wird. Die Wirksamkeit des Placebos liegt also möglicherweise nicht im Placebo selbst begründet, sondern in jenen „kontextabhängigen Faktoren“, unter denen es verabreicht wird.

Die Heilmethode des Schamanen legt großen Wert auf die „kontextabhängigen Faktoren“: Seine rituelle Kleidung, die Trommeln, die Kultgegenstände, die Beschwörungsformeln – sie haben Einfluss auf die Heilung des Kranken. Das Medikament, das Pflanzenheilmittel, ist dann ein Faktor von vielen, das zur Heilung beiträgt.

Und Charmides? – Er hat den „Spruch“ von Sokrates erfahren: Man dürfe keinen Teil des Körpers isoliert behandeln, sondern man müsse auch den restlichen Körper mit behandeln. Und den Körper dürfe man nicht ohne Seele behandeln. Charmides sollte also zuerst seine Seele untersuchen lassen bevor Sokrates ihm das Blatt auflege. „Denn heutzutage ist eben dies der Fehler bei den Menschen, dass man versucht, Arzt für nur eines von beiden (Körper oder Seele) zu sein.“