VIERSÄFTELEHRE
Die Säftelehre diente – vermutlich schon im alten Ägypten – als Grundlage des Verstännisses von Krankheit und Gesundheit. Damit löste sie jene Ansichten ab, wonach die Befindlichkeiten der Menschen allein von den Göttern abhing.
Gelehrte Ärzte gingen davon aus, dass im menschlichen Organismus vor allem vier Körpersäfte wichtig sind. Wenn diese im Gleichgewicht sind, ist der Mensch gesund, wenn nicht, wird er krank. Das älteste Textdokument der Viersäftelehre ist das Corpus Hippocraticum, eine Textsammlung, die bis ins späte 5. Jahrhundert vor Christus reicht.
„Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle; sie stellen die Natur seines Körpers dar und ihretwegen empfindet er Schmerzen und ist er gesund. Gesund ist er nur besonders dann, wenn diese Subtanzen in ihrer wechselseitigen Wirkung und in ihrer Menge das richtige Verhältnis aufweisen und am besten gemischt sind. Schmerzen empfindet er, wenn sich eine von diesen Substanzen in geringerer oder größerer Menge im Körper absondert und nicht mit allem gemischt ist.“
Diese Beschwerden können körperlich oder seelisch sein. Zuviel gelbe Galle z. B. konnte nach damaliger Auffassung Jähzorn verursachen; zuviel schwarze Galle führte zu Traurigkeit, zu Melancholie (Griechisch = Schwarzgalligkeit). Im Laufe der Zeit entstand daraus die so genannte Temperamentenlehre, die sich bis heute im Alltagsbewusstsein gehalten hat: Sanguiniker beispielsweise, die zu viel Blut haben, sind heiter und lebhaft bis zum Leichtsinn. Der Melancholiker ist häufig traurig und ein Zuviel an Schleim brachte phlegmatische Eigenschaften zum Vorschein.
Die Körpersäfte konnte man auch wahrnehmen: Blut ist im Körper enthalten – und wenn es nicht mehr in ihm enthalten ist, ist das Leben des Menschen beendet. Auch den Schleim kann man erkennen – er macht sich als Schnupfen bemerkbar, die gelbe Galle war im Erbrochenen zu finden. Mit der schwarzen Galle ist es schwieriger. Galen, einer der bedeutendsten Ärzte in der Medizingeschichte aus dem 2. Jahrhundert, war sich darüber klar, dass die Viersäftelehre lediglich ein Konzept ist: “Wenn wir die schwarze Galle nicht hätten, müssten wir sie erfinden.“
Bereits im Umfeld des Aristoteles kam der Gedanke auf, das die schwarze Galle auch gute Seiten haben könnte, denn viele begabte und schöpferische Menschen neigen zur Traurigkeit. So lag die Überlegung nahe, dass es zwischen Melancholie und Genie einen Zusammenhang geben könnte.
Im Mittelalter sank das Ansehen der Melancholiker: Von Christus erlöste Menschen sollten nicht traurig sein. Man brachte nun die Melancholie mit Trägheit in Verbindung – und diese zählt zu den sieben Todsünden. Dennoch war die Melancholie (heute würde man von Depression sprechen) in den Klöstern so weit verbreitet, dass man sie auch Mönchskrankheit nannte. Hildegard von Bingen warnte eindrücklich vor ihr: „Es gibt auch eine Art von Traurigkeit, durch die aus jenen Säften um die Galle Lähmung entsteht. Sie erzeugt im Menschen Unwillen, Verhärtung … wenn die Gnade Gottes ihr nicht schnell zu Hilfe eilt.“ In Hildegards Lehre ist der Zusammenhang zwischen Mensch und Kosmos besonders wichtig. Bei der Erschaffung Adams hat Gott die vier Elemente der Schöpfung (Wasser, Luft, Erde, Feuer) im Menschenkörper ins richtige Verhältnis gesetzt. Im Urzustand zog der Mensch seine Körperwärme aus dem Feuer, seinen Atem aus der Luft, sein Blut aus dem Wasser und sein Fleisch aus der Erde – und alles war gut so. Durch Adams Verfehlung erhob sich in seinem Organismus die schwarze Galle; Traurigkeit und Verzweiflung wachsen erst aus dieser Melancholie – so Hildegard.
Die mittelalterlichen Ärzte waren besonders auch Ernährungstherapeuten. Wenn sie einen traurigen Menschen vor sich hatten, diagnostizierten sie einen Überschuss an schwarzer Galle und verordneten bestimmte Nahrungsmittel, auch pflanzliche Heilmittel, Sonne, Luft, Bewegung, Wärme.
Auch den Heilpflanzen wurden vier Eigenschaften zugeordnet (heiß – kalt – trocken – feucht). So konnte eine Krankheit, die als durch Kälte verursacht galt, mit einem Arzneimittel behandeln, das man als „heiß“ klassifizierte. Neben Arzneien hatten bestimmte Diäten oder chirurgische Maßnahmen das Ziel, die Säfte wieder in das richtige Verhältnis zu bringen.
Die Viersäftelehre hatte eine sehr lange Lebensdauer: Sie reicht von der griechischen Antike bis in das frühe 19. Jahrhundert. Sie wurde abgeschafft durch die neue naturwissenschaftliche Medizin im 19. Jahrhundert, als man feststellte, dass Gesundheit und Krankheit im Körper nicht in einem Mit- oder Gegeneinander von Körpersäften zu suchen sind, sondern in den Prozessen in den Zellen. Hier wurde ein wissenschaftliches Erklärungsmodell durch ein neues abgelöst.
Dabei hat die Viersäftelehre Einiges geleistet: Sie hat denKörper als ein offenes, dynamisches System aufgefasst und so dem Denken Möglichkeiten eröffnet, bewegliche Verbindungen herzustellen: zwischenKörper und Seele, Mensch und Umwelt, Krankheit und Gesundheit. Zur modernen Medizin gibt es wenige Entsprechungen, höchstens entfernte Analogien: Mischungsverhältnisse und Austauschprozesse sind wichtig, aber sie werden mit den Methoden der Biochemie ganz anders beschrieben.
Ganz ähnlichen Prinzipien der Säftelehre folgen die praktizierten indischen und chinesischen Gesundheitslehren (Ayurveda und Traditionelle Chinesische Medizin).